Wie uralte virale Sequenzen die Entwicklung der Gliedmaßen kapern
Neue Forschungsergebnisse aus der Gruppe von Stefan Mundlos zeigen, wie virenähnliche Partikel eine Fehlbildung in der Entwicklung verursachen.
Transposons sind genetische Sequenzen, die sich innerhalb des Genoms bewegen können und so Mutationen und Krankheiten verursachen. Das Labor von Stefan Mundlos hat nun den Mechanismus identifiziert, durch den ein Retrotransposon viralen Ursprungs zu Missbildungen der Gliedmaßen bei Mäusen führt. Die Forschenden fanden heraus, dass das Retrotransposon regulatorische Gensequenzen vereinnahmt und so seine eigene Expression während der Bildung der Gliedmaßen auslöst. Dies führt zur Produktion von virenähnlichen Partikeln in bestimmten Zellen der sich entwickelnden Gliedmaßen. Diese Partikel infizieren zwar keine anderen Zellen, verursachen aber den vorzeitigen Tod jener Zellen, die für das Herauswachsen der Gliedmaßen verantwortlich sind. Die Ergebnisse zeigen, dass eine fehlgeleitete Aktivierung retroviraler Elemente angeborene Fehlbildungen verursachen kann. Dieser neue Krankheitsmechanismus könnte die Ursache für bisher nur unzureichend verstandene Entwicklungsstörungen sein. Die Ergebnisse wurden in Nature Genetics veröffentlicht.

Im Laufe der Jahrtausende haben Viren ihre Spuren im menschlichen Genom hinterlassen. Fast die Hälfte davon besteht aus Transposons - mobilen genetischen Sequenzen, die unser Genom kolonisiert haben. Viele dieser Elemente sind Überbleibsel von Retroviren, die sich einst in die Genome unserer Vorfahren integrierten. TEs sind ein zweischneidiges Schwert: Einige von ihnen haben physiologische Funktionen, beispielsweise während der Entwicklung. Ihre Aktivität wird dabei durch epigenetische Mechanismen und durch andere Prozesse streng reguliert. Versagt diese Regulierung, können Transposons mobilisiert werden und die Genexpression stören, was zu Krankheiten führt.
In ihrer aktuellen Studie entdeckten die Forscher*innen einen neuen Mechanismus, durch den Transposone Krankheiten verursachen, ohne die Genexpression direkt zu verändern.
„In der Forschungsgruppe von Stefan Mundlos wollte ich untersuchen, wie Transposone die Genomregulierung während der Embryonalentwicklung beeinflussen können“, sagt Juliane Glaser, die die Arbeit als Postdoc am MPIMG durchführte. Das Mundlos-Labor interessiert sich aber auch schon lange für die Rolle des nicht-kodierenden Genoms bei seltenen genetischen Krankheiten. In ihrer aktuellen Studie konzentrierten sich die Wissenschaftler*innen nun auf die Daktylaplasie, eine Fehlbildung der Gliedmaßen von Mäusen, die der menschlichen Ektrodaktylie ähnelt und durch fehlende Zehen oder Finger gekennzeichnet ist. Es war bekannt, dass diese Fehlbildung durch ein Transposon viralen Ursprungs verursacht wird, das sich in der Nähe des Gens Fgf8 einfügt. Dieses Gen ist an der Bildung der Gliedmaßen beteiligt. „Auf der Grundlage früherer Forschungen wurde angenommen, dass das Transposon das proteinkodierende Gen stört, was zu dem beobachteten Phänotyp führt“, erklärt Juliane Glaser.
Das Team konnte nun zeigen, dass dies nicht zutrifft. Stattdessen produziert das Transposon ein Produkt, das die Zellen direkt beeinflusst. Mithilfe von Einzelzell-RNA-Sequenzierung konnten die Wissenschaftler*innen das Produkt des Transposons in einer bestimmten Zellpopulation der sich entwickelnden Gliedmaßen nachweisen. In Zusammenarbeit mit der Mikroskopie-Servicegruppe des Instituts machten sie anschließend die in den Zellen entstandenen virenähnlichen Partikel sichtbar. „Unsere Experimente zeigen, dass das Transposon die Genexpression nicht direkt stört. Vielmehr wird es Teil einer größeren regulatorischen Struktur, die als “topologically assoicated domain” (TAD) bezeichnet wird. Innerhalb dieser Domäne führt ihre Aktivierung zur Produktion von nicht-infektiösen Viruspartikeln, die aber für die Zelle toxisch sind“, erklärt Juliane Glaser.
Frühere Studien haben gezeigt, dass Transposone in menschlichen Zellen in vitro virale Partikel erzeugen können. Ob ein ähnlicher Mechanismus in vivo zu Krankheiten beiträgt und wie weit verbreitet solche Effekte sein könnten, ist jedoch noch unklar. Juliane Glaser wird die Rolle von Transposonen in der Entwicklung von Säugetieren in ihrer eigenen Forschungsgruppe weiter erforschen, dass sie vor kurzem am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg gestartet hat. „Eine der Hauptfragen, die ich in meinem Labor untersuchen werde, ist die physiologische Funktion von Transposons in der Entwicklung, neben ihrer Rolle bei Krankheiten“, sagt sie.