Stefan Mundlos erhält Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats
Genomik der Evolution: wie Fledermäuse fliegen lernten
Der Berliner Forscher Stefan Mundlos wurde mit einem der renommierten ERC Advanced Grants ausgezeichnet. Das Förderprogramm des Europäischen Forschungsrates (ERC) gehört zu den bedeutendsten in Europa. Mundlos will untersuchen, welche genregulatorischen Mechanismen evolutionär zur Entstehung der Flügel der Fledermaus führten. Für das Projekt stellt der ERC Mundlos und seinem Team rund 2,5 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren zur Verfügung.
Bei einem Fledermaus-Embryo sehen die Anlagen für die vorderen Gliedmaßen zunächst ganz gewöhnlich aus. Doch dann werden Armknochen und Finger immer länger, ein Unterarmknochen bildet sich zurück und es entwickeln sich mit Haut bespannte Flügel. Das Ergebnis ist ein flugfähiges Säugetier, das sich in einzigartiger Weise an seine Lebensbedingungen angepasst hat.
„Die Entwicklungsgene müssen in einer genauen zeitlichen Abfolge aktiv werden, damit statt einer Pfote ein Fledermausflügel entsteht“, sagt Stefan Mundlos. Er ist Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie Forschungsgruppenleiter und Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG).
Zusammen mit seinem Team erforscht Mundlos, welche genetischen Mechanismen die normale Entwicklung des Skeletts steuern und wie es dabei zu Fehlbildungen kommen kann. „Wir wollen herausfinden, wie die genomische Sequenz über das Zusammenspiel der Gene die Entwicklung ganzer Organsysteme und die unterschiedliche Gestalt von Lebewesen bestimmt”, sagt Mundlos. Dabei konzentrieren sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem auf die Entwicklung der Gliedmaßen und versuchen zu beantworten, wie das gleiche Körperteil bei verschiedenen Säugetierarten völlig unterschiedliche äußere Formen entwickeln kann.
Das Arsenal der modernen Genomforschung
Wie kommt die äußere Form eines Organismus zustande? Wie wird dieser Vorgang durch nicht-kodierende Elemente im Genom gesteuert? Mit diesen Fragen setzt sich Mundlos bereits seit Langem intensiv auseinander. Im Rahmen der ERC-Förderung wollen er und sein Team solche nicht-kodierenden genetischen Steuerungselemente von Fledermäusen identifizieren und im Detail untersuchen. Um die Funktion dieser verhältnismäßig großen Genom-Abschnitte bei der Genregulation zu charakterisieren, wollen die Forschenden sie mit Technologien der synthetischen Biologie selbst künstlich herstellen und anschließend testen.
Durch genaue Analyse und den Vergleich zu Mausembryonen zum Zeitpunkt der Entwicklung der Extremitäten wollen sie herausfinden, welche genetischen „Schalter“ für die Ausbildung von Flügeln erforderlich sind und nach welchen Gesetzmäßigkeiten diese zusammenarbeiten. Die Arbeiten sollen grundsätzliche Fragen klären: Welche Elemente steuern die Genaktivität im Organismus, wie wirken sich Sequenzunterschiede in diesen Steuerungselementen aus und wie werden evolutionäre Anpassungen in der Morphologie im Genom kodiert?
Darüber hinaus könnte die neu entwickelte Technologie die Funktionsanalyse von Säugetiergenomen zukünftig entscheidend erleichtern. Dies betrifft insbesondere die Untersuchung von nicht-kodierenden DNA-Abschnitten und deren Funktion bei normaler Entwicklung und bei Krankheit. Neue Einblicke in die Funktion von nicht-kodierender DNA sind notwendig, um die Rolle dieses Teils des Genoms bei der Entstehung genetischer Erkrankungen besser zu verstehen.
Evolutionäre Anpassung durch variable Entwicklungsprogramme
„Man kann sich das Genom wie einen Werkzeugkasten vorstellen“, sagt Mundlos. Die Gene sind die Werkzeuge, die einen Organismus bauen können. Dazu kommen die Arbeitsanweisungen – die genetischen Steuerungselemente – die festlegen, in welcher Reihenfolge welches Werkzeug zum Einsatz kommt.“ Aus diesem Fundus bediene sich die Evolution und variiere vor allem die Arbeitsanweisungen, um existierende Strukturen so zu verändern, dass sie die gewünschten Merkmale ausbilden.
„Die Entwicklungsgene selbst sind in verschiedenen Säugetierarten fast identisch, aber durch Unterschiede in der Regulation entsteht eine unglaubliche Vielfalt“, erklärt Mundlos. „Die Gliedmaßen der Fledermaus sind ein morphologisch besonders extremes Beispiel. Das macht sie für unsere Untersuchungen interessant, denn wir erwarten entsprechend starke Abweichungen insbesondere bei der Genregulation.“
Bei den Fledermäusen unterscheiden sich Vorder- und Hintergliedmaßen in Form und Funktion viel stärker voneinander als bei den meisten anderen Säugetieren. Während sie vorn filigrane Flügel besitzen, verfügen sie hinten über kleine Pfoten, mit denen sie sich an Ästen oder Felsvorsprüngen festhalten können. Trotzdem sind für die Entwicklung von Vorder- und Hinterbeinen bis auf wenige Ausnahmen die gleichen Gene verantwortlich.
Welche Faktoren auf welche Weise zusammenwirken, um diese Vielfalt hervorzubringen, sei aber bislang kaum bekannt, sagt Mundlos. „Wir verstehen nicht, wie Enhancer, Promotoren und andere regulatorische Komponenten zusammenarbeiten, um die Genexpression zu kontrollieren und fein abzustimmen.“
Unterschiede jenseits der Gene
Regulatorische Sequenzen gehören zu den nicht-kodierenden Abschnitten des Genoms, die etwa 98 Prozent des Erbguts ausmachen. Sie enthalten keine Bauanleitungen für Proteine. Stattdessen steuern sie die Genexpression, also ob und wann ein Gen abgelesen und wie viel Protein infolgedessen hergestellt wird.
DNA-Abschnitte wie Enhancer und Promotoren bestimmen, in welchem Gewebe und unter welchen Umständen Gene an- oder ausgeschaltet werden. Enhancersequenzen können weit von ihrem Zielgen entfernt sein. Die Promotorregion dagegen befindet sich stets in unmittelbarer Nähe zum eigentlichen Gen. Zusätzlich gibt es epigenetische Regulatoren – Faktoren, die die „Verpackung“ des Erbgutes chemisch modifizieren und sie mit einer Lesesperre versehen, die DNA selbst und die Gene jedoch nicht antasten.
Die Forschungsgruppe um Mundlos hatte bereits vor einigen Jahren gezeigt, dass DNA-Veränderungen in nicht-kodierenden Bereichen zu Krankheiten führen können. Abweichungen in der DNA-Sequenz können unter anderem Veränderungen in der dreidimensionalen Struktur des Genoms verursachen: der DNA-Faden legt sich im Zellkern nicht mehr in die richtigen Schlaufen, was eine fehlerhafte Genregulation zur Folge hat.
Dies sind nur Beispiele für eine Vielzahl an Vorgängen, die zusammenwirken müssen, damit Gene, genregulatorische Sequenzen, epigenetische Modifikationen und Steuerungsfaktoren ein gewünschtes Ergebnis produzieren. Das komplexe Gesamtgeschehen sei schwer zu fassen, sagt Mundlos. „Welche Mechanismen die Ausprägung der Gene und letztlich das Erscheinungsbild eines Organismus steuern, ist bislang nur unzureichend verstanden.“
„Wie Informationen, die in der DNA kodiert sind, in äußerliche Merkmale übersetzt werden, ist eine ganz grundlegende Frage der Biologie, die wir im Grunde noch immer nicht beantworten können“, sagt der Forscher. „Wir verfügen heute aber über die Technologien, um dieses Problem grundsätzlich neu zu betrachten.“
Zur Person
Stefan Mundlos studierte Medizin an den Universitäten Göttingen, Marburg und Heidelberg und verbrachte zusätzliche Studienaufenthalte an der University of California in San Diego/USA, sowie der University of Melbourne/Australien. 1986 wurde er promoviert und absolvierte anschließend seine Facharztausbildungen in Kinderheilkunde (1992) und in Humangenetik (1998) an der Kinderklinik der Universität Mainz. Von 1993 bis 1994 forschte er am Royal Children’s Hospital and Murdoch Institute for Research into Birth Defects der University of Melbourne/Australien. Es folgte ein Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School in Boston/USA, ehe er sich 1997 an der Universität Mainz habilitierte. Von 1998 bis 2000 hatte er eine Professur für Entwicklungsgenetik am Institut für Humangenetik in Heidelberg inne. 2000 wurde er als Direktor an das Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und gleichzeitig zum Leiter einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG) berufen. Ende 2017 berief ihn der Senat der Max-Planck-Gesellschaft zum Auswärtigen Wissenschaftlichen Mitglied am MPIMG.
Über den Europäischen Forschungsrat
Der Europäische Forschungsrat (ERC) wurde 2007 von der Europäischen Union ins Leben gerufen und ist die führende europäische Förderorganisation für grundlagenorientierte Spitzenforschung. Jedes Jahr wählt er die besten und kreativsten Forschenden jeglicher Nationalität und jeden Alters und finanziert die Durchführung ihrer Projekte in Europa. Der ERC bietet vier wesentliche Förderprogramme an: Starting, Consolidator, Advanced und Synergy Grants. Alle Programme dienen der Förderung von riskanter, aber bahnbrechender „Pionierforschung“. Alleiniges Auswahlkriterium für alle Projekte sind die wissenschaftliche Exzellenz der oder des Antragstellenden und seiner bzw. ihrer Projektidee.