Mathematische Modelle demonstrieren die Integration von Information durch zelluläre Signalwege

Forschungsbericht (importiert) 2006 - Max-Planck-Institut für molekulare Genetik

Autoren
Klipp, Edda
Abteilungen
Otto-Warburg-Laboratorium - Computational Systems Biology (Dr. Edda Klipp)
MPI für molekulare Genetik, Berlin
Zusammenfassung
Die molekularbiologische Forschung gibt Einsicht in die Komponenten und Mechanismen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Stress durch Zellen. Die mathematische Modellierung unterstützt das Verständnis grundlegender Prinzipien der Signalweiterleitung und Signalverarbeitung sowie von Sensitivität und Robustheit der Informationsübertragung und der damit einhergehenden Anpassung der Zellen. Zwei Beispiele werden für einen Modellorganismus, die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae, vorgestellt.

Einführung

Die Verbindung von Modell- und Laborexperimenten ermöglicht die Untersuchung der biochemischen und biophysikalischen Prozesse, die an komplexen Vorgängen in der Zelle beteiligt sind. Systembiologie ist ein neues Forschungsgebiet, dessen wichtigstes Ziel ist, komplexe biologische Systeme mathematisch zu modellieren und durch die Analyse der Modelle wiederum Eigenschaften der biologische Objekte zu lernen [1, 2]. Ein besonders spannendes Thema ist die Stressverarbeitung und die Wachstumskontrolle von Zellen: Sie müssen auf Veränderungen des Mediums, zum Beispiel des Nährstoffangebots, reagieren und sie empfangen wachstumssteuernde Signale, leiten sie weiter zu ihren Zielorten und reagieren nach einer durch die Evolution optimierten Art und Weise.

Die molekulare Struktur einiger solcher Signalwege ist inzwischen annähernd aufgeklärt - im Prinzip gehorchen sie immer dem gleichen Muster: Ein Signal aktiviert einen Rezeptor in der Zellmembran und der Rezeptor nimmt nun Kontakt zu einem Protein auf und modifiziert es. Daran schließt sich eine Kaskade von Protein-Protein-Wechselwirkungen an, deren wichtigstes Ziel die DNA im Zellkern ist. Durch die Bindung spezieller Proteine, so genannter Transkriptionsfaktoren, wird das Ablesen der Gene gesteuert und die Zelle kann zum Beispiel solche Proteine vermehrt herstellen, die sie für die Antwort auf den empfangenen Reiz benötigt.

Die Informationsverarbeitung in Zellen verläuft jedoch nicht linear wie in einem Flussbett oder digital wie in elektronischen Geräten. Einerseits können Zellen mehrere externe Informationen gleichzeitig und graduell verarbeiten. Andererseits hängt die Antwort auf Signale auch vom aktuellen Zustand der Zelle ab, den sie ebenfalls mittels verschiedener Signalwege „spürt“.

Was nützt hier die Mathematik?

Mathematische Modelle helfen, die Integration unterschiedlicher Signale zu verstehen. Ein typisches Vorgehen ist die Darstellung der Dynamik einer Signalweiterleitung durch Systeme von gewöhnlichen Differenzialgleichungen. Für jedes Protein, jeden Proteinkomplex oder auch modifizierte Form eines Proteins beschreibt eine separate Differenzialgleichung die zeitliche Änderung der Proteinkonzentration, die durch Synthese oder Abbau, Komplexbildung, Aktivierung oder Hemmung verursacht wird. Die Parameter für die Differenzialgleichungssysteme werden aus experimentellen Daten, insbesondere Zeitreihen, bestimmt. Die Parameterschätzung für diese hochdimensionalen, nichtlinearen Systeme ist zurzeit ein Fokus in der Modellierung, weil sie erstens numerisch sehr aufwendig ist und zweitens oft wenig geeignete experimentelle Daten vorhanden sind [3, 4, 5]. Obwohl in den so genannten Hochdurchsatz-Techniken oft riesige Datenmengen erzeugt werden, braucht man für dynamische Modelle zumeist andere, gezielt gemessene Informationen wie eben zum Beispiel Zeitreihen der Messung bestimmter Proteinkonzentrationen.

Für Modellorganismen wie die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae sind solche Daten für einige Signalwege erhoben worden. Im Folgenden werden zwei Beispiele besprochen: der Pheromonweg und der High Osmolarity Glycerol (HOG) Signalweg.

Interaktion zwischen Pheromonweg und Filamentwachstumsweg

Hefe hat einen Lebenszyklus, der Stadien mit einem doppelten (diploiden) und einem einfachen (haploiden) Chromosomensatz einschließt. Der Übergang zur haploiden Form erfolgt unter Mangelbedingungen. Es gibt zwei haploide Formen, die Typen Mat a und Mat α. Wenn die Umweltbedingungen lebensfreundlicher werden, senden beide Typen die jeweiligen Pheromone, den a- oder α-Faktor, aus. Empfängt eine Mat a-Zelle α-Moleküle, dann stoppt sie den Zellteilungszyklus und bereitet sich auf die Paarung vor, die wieder zur diploiden Form führt.

Der Pheromonweg dient haploiden Zellen der Wahrnehmung eines potenziellen Paarungspartners in der Umgebung und zur Koordination der notwendigen zellulären Prozesse. Mithilfe eines mathematischen Modells [6] lassen sich wichtige dynamische Eigenschaften erklären: i.) Wie versichert sich die Zelle, dass das vom Rezeptor aufgenommene Signal an seinen Zielorten ankommt, ohne Überstimulation zu riskieren? Der Signalweg enthält dafür mehrere Feedback-Regelkreise, die bei Aktivierung des Transkriptionsfaktors und nach der Expression der notwendigen Gene jeweils dosiert den Informationsfluss durch den Signalweg reduzieren. ii.) Wie ist die Zelle in der Lage, einen nahen von einem fernen (und damit unerreichbaren) Paarungspartner zu unterscheiden? Sie kann dazu graduell auf die Konzentration des Pheromons reagieren und reguliert bei geringen Konzentrationen nur spezielle Genexpression, stoppt bei höheren Konzentrationen aber den gesamten Zellteilungszyklus und bildet erst bei Bindung einer bestimmten Menge an α-Faktor einen so genannten shmootip, d.h. es erfolgt ein lokales Zellwachstum zur Vereinigung.

Der Pheromonweg hat viele gemeinsame Komponenten mit einem anderen Signalweg, dem Filamentweg, der unter bestimmten Nahrungsmangelbedingungen dazu führt, dass die nicht bewegungsfähigen Zellen Hyphen, also Zellfortsätze ausbilden, um neue Nahrungsquellen erschließen zu können. Beide Signalwege benutzen gleiche als auch unterschiedliche Proteine und aktivieren zum Teil die gleichen Gene (Abb. 1).

Für den crosstalk, d.h. die Interaktion zweier Signalwege mit gemeinsamen Komponenten, erlauben Modelle eine Quantifizierung der Beiträge beider Wege zur Anregung ihrer Targets sowie der gegenseitigen Hemmung und Aktivierung [7]. Die Targets des Pheromonweges werden vom Filamentweg teilweise mit angeregt, das heißt, es findet eine cross-Aktivierung und eine Signalverstärkung durch die zusätzliche Wirkung des Filamentweges statt. Die gleichzeitige Anregung des Pheromonweges dagegen unterdrückt den Filamentweg weitestgehend. Das für den Filamentwachstumsweg spezifische Signal ist dominant, das heißt, nur der Nährstoffmangel kann die Targets des Filamentweges effektiv anschalten. Oder anders gesagt, sexuelle Stimulation unterdrückt bei den Hefen den Hunger, aber leichter Hunger kann die sexuelle Stimulation verstärken.

Zellantwort auf osmotischen Stress

Signalwege sind auch für die Osmoregulation in Zellen wichtig. Dieses Phänomen beschreibt die für jedes Leben fundamentalen und zum Teil gut konservierten Prozesse, mit denen Zellen ihren Wasserhaushalt kontrollieren. Wenn in der Umgebung von Hefezellen die Konzentrationen von Salz oder Zucker zunehmen, verlieren sie passiv Wasser (osmotischer Schock). Die zelluläre Antwort darauf ist die Akkumulation von Glyzerol zur Wiederaufnahme von Wasser. Die Produktion von Glyzerol wird über eine Signalkaskade angeregt (High Osmolarity Glycerol (HOG) Signalweg), welche die aktivierte Expression mehrerer Gene sowie Stoffwechselveränderungen induziert. Außerdem wird die Glyzerolanreicherung durch das Schließen des Glyzerolskanals Fps1 in der Zellmembran unterstützt. Wenn die Zellen genügend Glyzerol akkumulieren und die Wasserbilanz ausgeglichen haben, setzen sie die unterbrochenen Wachstumsprozesse fort.

Für derartige komplexe Regulationsleistungen müssen verschiedene Zellprozesse koordiniert werden: Der Signalweg transportiert die Information vom Rezeptor zu den Genen, die Genexpression wiederum steuert die Menge der Enzyme, und der dadurch veränderte Stoffwechsel sorgt schließlich für die erhöhte Glyzerolproduktion. Darüber hinaus unterliegen alle Komponenten einer weiteren, zeitabhängigen Veränderung: Da die Zellen Wasser verlieren und wieder aufnehmen, verändert sich auch das Volumen, in dem die Reaktionen stattfinden. Auch bei der Untersuchung solcher komplexen Phänomene können Modelle sehr nützlich sein [8], so bei der Klärung von Widersprüchen: Im Experiment wird zum Beispiel dem Medium Salz zugefügt, die Komponenten im Signalweg zeigen jedoch nur eine transiente Aktivierung. Was verursacht ihr Ausschalten bei dauerhafter Stimulation? Mithilfe mathematischer Modelle und abgestimmter Experimente kann man zeigen, dass es die Akkumulation von Glyzerol ist, die zur Deaktivierung des Signalweges führt. Das verbindende Element dabei ist der Turgor, also der Druck, den die Zellmembran ausübt, um den Unterschied zwischen dem hohen osmotischen Druck in der Zelle und dem geringeren Druck des umgebenden Mediums auszugleichen. Die Adaptation an Osmostress erfolgt über einen großen Feedback-Regelkreis von der Turgorveränderung über die Signalkaskade und die Genregulation bis hin zur Glyzerolproduktion und zum Turgorausgleich.

Das mathematische Modell gibt darüber Aufschluss, welcher Teil des Regulationsnetzwerkes in welcher Phase der Anpassung wichtig ist. So erfolgt eine anfängliche Akkumulation von Glyzerol bereits ohne erhöhte Genexpression allein schon durch das Schließen des Glyzerolkanals Fps1. Erst nach etwa einer halben Stunde sorgt die erhöhte Menge an Enzymen für eine dauerhafte Erhöhung der Glyzerolkonzentration. Der Glyzerolkanal ist dann bereits wieder geöffnet (Abb. 2).

Die Modellparameter wurden aus experimentellen Daten für Wildtypzellen nach Stress mit 0,5 M NaCl bestimmt. Der eigentliche Test und vorhersagende Wert des Modells besteht aber in der Anwendung auf Situationen, die in der Modellerstellung nicht berücksichtigt wurden. Dazu wurden verschiedene Mutanten und ihr Verhalten unter Osmostress in folgenden Szenarien untersucht: i.) Fehlen den Zellen die zur Glyzerolproduktion notwendigen Enzyme, wird kein Glyzerol produziert. Der Feedbackkreis ist nicht geschlossen, und der Signalweg wird nicht abgeschaltet. ii.) Ist Fps1 aufgrund einer Mutation nicht in der Lage, bei Stress zu schließen, produzieren die Zellen sehr viel Glyzerol, können es aber kaum akkumulieren. Der Turgor steigt also nur sehr langsam und der Signalweg bleibt lange aktiv. Dies bestätigt, dass das Feedback nicht nur über molekulare Interaktionen abläuft (wie zum Beispiel erhöhte Produktion oder Aktivierung von Proteinen), sondern an die osmotische Adaption gekoppelt ist. iii.) Die Stimulation mit unterschiedlichen Salzmengen demonstriert graduelle Anregbarkeit. Für kleine Salzkonzentrationen steigen die Amplituden der Aktivierung von Proteinen der Signalkaskade mit der Salzmenge. Bei hohen Salzkonzentrationen kann die Amplitude jedoch nicht weiter steigen, weil die Proteinmenge begrenzt ist, statt dessen nimmt dann die Dauer der Protein-Aktivierung zu. iv.) Wiederholte Salzzugabe im Abstand von 30 Minuten demonstriert wiederholte Anregbarkeit der Zellen und ihrer Anpassungsmechanismen.

Für eine umfassende Betrachtung zellulärer Regulationsmechanismen ist sowohl das Verständnis der Regulation von Proteinen und begrenzten Signalwegen wichtig, unerlässlich ist aber auch die Einbeziehung der unterschiedlichen molekularen Ebenen. Es zeigt sich, dass Lebensvorgänge in Zellen nicht einfach als Bündel von Reaktionen verstanden werden dürfen. Sie sind vielmehr eng an die vorhandenen Zellstrukturen und deren physikalische Veränderungen geknüpft. In weitergehenden Arbeiten werden die Wechselwirkungen von Signalwegen mit der Regulation des Zellzyklus und des Stoffwechsels sowie Alterungsprozesse von Hefen untersucht.

Zusammenfassend gesagt, liefern mathematische Modelle eine nachprüfbare Formulierung des experimentellen Wissens. Mithilfe der Modelle kann man untersuchen, ob sich die verbale Logik in der Erklärung biologischer Beobachtungen mathematisch so darstellen lässt, dass das Modell die gleichen Verhaltensweisen zeigt, wie man sie im Experiment sieht oder erwartet hat. Das Zeitverhalten experimentell nicht zugänglicher Komponenten kann so begründet vorhergesagt werden. Modelle gestatten darüber hinaus virtuelle Experimente. So kann man testen, welchen Effekt eine Mutation auf das Verhalten eines Signalsystems hat, ob zum Beispiel die Signalweiterleitung unterdrückt, verstärkt oder moduliert wird. Dieses Ergebnis kann man dann direkt mit dem Experiment vergleichen. Ein adäquates Modell ermöglicht es auch, verschiedene Hypothesen in silico zu testen, mithin relativ preiswert und ohne Gefahr für Lebewesen oder Umwelt, was zudem den Umfang an notwendigen biologischen Experimenten reduzieren kann.

Originalveröffentlichungen

1.
Kitano, H.:
Systems biology: A brief overview.
Science 295, 1662-1664 (2002)
2.
Klipp, E.; Herwig, R.; Kowald, A.; Wierling, C.; Lehrach, H.:
Systems biology in practice. Concepts, implementation and application.
Wiley-VCH Verlag, Weinheim (2005)
3.
Liebermeister, W.; Klipp, E.:
Bringing metabolic networks to life: Convenience rate law and thermodynamic constraints.
Theoretical Biology and Medical Modelling 3: Nr. 41 (2006)
4.
Liebermeister, W.; Klipp, E.:
Bringing metabolic networks to life: Integration of kinetic, metabolic, and proteomic data.
Theoretical Biology and Medical Modelling 3: Nr. 42 (2006)
5.
Zi, Z.; Klipp, E.:
SBML-PET: A systems biology markup language-based parameter estimation tool.
Bioinformatics 22, 2704-2705 (2006)
6.
Kofahl, B.; Klipp, E.:
Modelling the dynamics of the yeast pheromone pathway.
Yeast 21, 831-850 (2004)
7.
Schaber, J.; Kofahl, B.; Kowald, A.; Klipp, E.:
A modelling approach to quantify dynamic crosstalk between the pheromone and the starvation pathway in baker’s yeast.
FEBS Journal 273, 3520-3533 (2006)
8.
Klipp, E.; Nordlander, B.; Kruger, R.; Gennemark, P.; Hohmann, S.:
Integrative model of the response of yeast to osmotic shock.
Nature Biotechnology 23, 975-982 (2005)
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