Kalscheuer Lab / Chromosomen-Umlagerungen und Krankheit
Das übergeordnete Ziel der Arbeitsgruppe ist, die ursächlichen genetischen Defekte seltener monogener neurologischer Entwicklungsstörungen (NDD) aufzuklären. Dazu nutzen wir modernste Strategien der Genetik und Genomik. Zudem wollen wir besser verstehen, wie genau sich krankmachende Genvarianten auf den Organismus auswirken und wie die Zellprotein-Signalnetzwerke der jeweiligen Proteine funktionieren. Die Ergebnisse sollen Einblicke in normale und gestörte Genfunktionen sowie in molekulare Signalwege geben und unser Verständnis der Mechanismen verbessern, die der normalen Gehirnentwicklung zugrunde liegen.
Unsere Gruppe hat aktiv nach neuen NDD-Genen gesucht, indem wir Chromosomen-Bruchstellen systematisch kartiert haben, durch die zwar kein genetisches Material verloren gegangen ist, aber möglicherweise ein krankheitsrelevantes Gen unterbrochen wurde. Zudem haben wir bei über 500 Familien mit X-chromosomaler geistiger Behinderung das gesamte Exom des X-Chromosoms sequenziert. Durch diese Bemühungen haben wir zahlreiche neue Gene für verschiedene Formen von NDD identifiziert oder dazu beigetragen (z. B. CDKL5, PQBP1, AUTS2, ARHGEF9, DYRK1A, FOXG1, ZC4H2, CLCN4, CNKSR2, GABRA3, EIF2S3, RLIM, MSL3).
Wir untersuchen derzeit erneut diejenigen Erkrankten und Familien, bei denen sich die krankheitsrelevante Genvariante nicht in proteinkodierenden Regionen zu befinden scheint oder die identifizierte Variante in einem bekannten Krankheitsgen als von unklarer klinischer Signifikanz interpretiert wurde. Diese Aktivitäten werden durch in-vitro- und in-vivo-Studien zu ausgewählten zuvor gefundenen und neu identifizierten NDD-Genen und -Proteinen ergänzt.
Das Krankheitsgen CDKL5 beeinflusst die Entwicklung der Synapsen
In einem unserer Forschungsprojekte konnten wir erstmalig zeigen, dass das X-chromosomale Gen CDKL5 ein Krankheitsgen ist. In nachfolgenden Arbeiten haben wir berichtet, dass nicht nur das Fehlen des Genprodukts, sondern auch einzelne Aminosäureaustausche im CDKL5-Gen eine neuronale Entwicklungsstörung (CDKL5 Deficiency Disorder, CDD) verursachen. CDD betrifft überwiegend Mädchen und ist nicht heilbar. Es können bereits in den ersten Lebensmonaten epileptische Anfälle auftreten. Zusätzlich werden muskuläre Hypotonie, wenig Augenkontakt und eine globale Entwicklungsverzögerung berichtet. Es ist auch bekannt, dass große Unterschiede im Hinblick auf den Schweregrad der Gesundheitsstörungen bestehen.
In nachführenden Arbeiten konnten wir zeigen, dass das CDKL5-Protein an den exzitatorischen Synapsen lokalisiert ist und zu der Ausbildung von dendritischen Spine-Strukturen und Synapsenaktivität beiträgt. Mutationen im CDKL5-Protein führen zu synaptischen Veränderungen. Darüber hinaus haben wir herausgefunden, dass CDKL5 mit dem NGL-1 Rezeptor interagiert, der für die synaptische Homöostase wichtig ist und dass NGL1 von CDKL5 phosphoryliert wird. Durch diese Phosphorylierung wird die Affinität des Rezeptors zu einem anderen Protein, PSD95, verstärkt. PSD95 ist ein zentrales Gerüstprotein der sogenannten postsynaptischen Dichte, welche die rezeptorvermittelte Signaltransduktion umsetzt. Diese Ergebnisse zeigen, dass CDKL5 für die Entwicklung von synaptischen Spines und für die synaptische Morphogenese wichtig ist. Momentan beschäftigt sich die Arbeitsgruppe mit der Identifikation von weiteren CDKL5 Komplexpartnern und möglichen Phosphorylierungssubstraten, deren Fehlregulation zu der Erkrankung beitragen könnten.
Die Funktion von ZC4H2 bei seltenen Erkrankungen des Nervensystems
Darüber hinaus beschäftigt sich die Arbeitsgruppe mit der Aufklärung der Funktion des X-chromosomalen ZC4H2-Gens. De novo und vererbte pathogene Varianten in ZC4H2 verursachen seltene syndromale Störungen bei Männern und Frauen mit Beteiligung des zentralen und peripheren Nervensystems (ZC4H2-Associated Rare Disorders, ZARD). Aktuelle Untersuchungen zielen darauf ab, die molekularen und zellulären Mechanismen besser zu verstehen, die den Störungen zugrunde liegen.
Mutationen in CLCN4 als Ursache geistiger Behinderung
Ein weiterer Schwerpunkt aktueller Studien ist das X-chromosomale Gen CLCN4. Pathogene Veränderungen in CLCN4 verursachen bei Männern und teilweise auch bei Frauen eine syndromale Form der geistigen Behinderung. Das ultimative Ziel ist es, die Pathophysiologie der CLCN4-bedingten Störung besser zu verstehen – eine wichtige Voraussetzung für die translationale Forschung. CLCN4 kodiert den Chlorid-/Wasserstoff-Ionenaustauscher ClC-4. In enger Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untersuchen wir derzeit die Frage, wie wir die Krankheitsrelevanz neuartiger Missense-Varianten im CLCN4-Gen besser bestimmen können und warum die Auswirkungen von heterozygoten CLCN4-Varianten auf den Phänotyp von Frauen so variabel sind.
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