Können frühere Erkältungen die Schwere der SARS-CoV-2-Symptome beeinflussen?

Weiterentwickeltes Preprint in Nature erschienen / Charité startet neue Studie

29. Juli 2020
Eine Studie unter Leitung der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik (MPIMG) zeigt: Einige gesunde Menschen besitzen Immunzellen, die das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 erkennen können. Der Grund könnte in vorhergehenden Infektionen mit landläufigen Erkältungs-Coronaviren liegen. Ob sich eine solche Kreuzreaktivität schützend auf den Verlauf einer Infektion mit SARS-CoV-2 auswirkt, soll nun die Studie „Charité Corona Cross“ zeigen.

Woran liegt es, dass manche Menschen am neuartigen Coronavirus schwer erkranken, während andere kaum Symptome bemerken? Die Antwort darauf ist vielschichtig und Gegenstand intensiver Forschung. Einen möglichen Einflussfaktor hat ein Forschungsteam der Charité und des MPIMG jetzt identifiziert: frühere Infektionen mit harmlosen Erkältungs-Coronaviren. Darauf deuten Untersuchungen an sogenannten T-Helferzellen hin – spezialisierten weißen Blutkörperchen, die für die Steuerung der Immunantwort essentiell sind. Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachteten, verfügt etwa ein Drittel der Menschen, die noch nie mit SARS-CoV-2 in Kontakt gekommen sind, über T-Helfer-Gedächtniszellen, die das neue Virus dennoch erkennen. Der Grund dafür ist vermutlich, dass bestimmte Strukturen von SARS-CoV-2 denen landläufiger Coronaviren ähneln.

Für Ihre Untersuchungen gewannen die Forschenden Immunzellen aus dem Blut von 18 COVID-19-Erkrankten, die an der Charité zur Behandlung aufgenommen und per PCR-Test positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren. Zusätzlich isolierten sie Immunzellen aus dem Blut von 68 gesunden Personen, die nachweislich noch nie mit dem neuen Coronavirus in Kontakt gekommen waren. Die Immunzellen stimulierten sie dann mit kleinen, künstlich hergestellten Bruchstücken des sogenannten Spike-Proteins von SARS-CoV-2. Es bildet die Coronavirus-typische „Krone“ auf der Oberfläche des Virus und ermöglicht ihm den Eintritt in menschliche Zellen. Anschließend überprüfte die Forschungsgruppe, ob die T-Helferzellen durch die Proteinfragmente aktiviert worden waren. Das Ergebnis: Bei 15 der 18 COVID-19-Erkrankten, also 85 Prozent, reagierten die T-Helferzellen auf die Bruchstücke der Virusoberfläche. „Das hatten wir nicht anders erwartet, das Immunsystem der Patientinnen und Patienten bekämpfte das neue Virus ja gerade und reagierte deshalb auch im Reagenzglas darauf“, erklärt Claudia Giesecke-Thiel, Leiterin der Servicegruppe Durchflusszytometrie am MPIMG und eine der drei leitenden Autorinnen und Autoren der Studie. „Dass die T-Helferzellen nicht bei allen COVID-19-Erkrankten auf die Virusfragmente reagierten, liegt vermutlich daran, dass sich die T-Zellen in einem akuten oder besonders schweren Stadium einer Erkrankung außerhalb des Körpers nicht aktivieren lassen.“

Zur Überraschung des Teams fanden sich aber auch im Blut der Gesunden reaktive T-Helferzellen: Bei 24 der 68 Getesteten (35 Prozent) gab es Gedächtniszellen, die SARS-CoV-2-Fragmente erkannten. Dabei fiel den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf, dass die Immunzellen der COVID-19-Erkrankten und der Gesunden auf unterschiedliche Teilstücke der Virushülle reagierten. Während die T-Helferzellen der Patienten das Spike-Protein über seine komplette Länge erkannten, wurden die T-Helferzellen der Gesunden vor allem von Abschnitten des Spike-Proteins aktiviert, die entsprechenden Abschnitten des Spike-Proteins von harmloseren Erkältungs-Coronaviren ähneln. „Das deutet darauf hin, dass die T-Helferzellen der Gesunden auf SARS-CoV-2 reagieren, weil sie sich in der Vergangenheit mit heimischen Erkältungs-Coronaviren auseinandersetzen mussten“, sagt Giesecke-Thiel. „Denn eine Eigenschaft der T-Helferzellen ist, dass sie nicht nur von einem exakt ‚passenden‘ Erreger aktiviert werden können, sondern auch von ‚ausreichend ähnlichen‘ Eindringlingen.“ Tatsächlich konnte die Forschungsgruppe nachweisen, dass die T-Helferzellen der gesunden Probanden, die auf SARS-CoV-2 reagierten, auch durch verschiedene Erkältungs-Coronaviren aktiviert wurden – und damit per Definition „kreuzreagierten“.

Die Frage, wie sich diese Kreuzreaktivität bei gesunden Testpersonen auf eine mögliche SARS-CoV-2-Infektion auswirkt, kann die aktuelle Nature-Studie nicht beantworten. „Grundsätzlich ist vorstellbar, dass kreuzreaktive T-Helferzellen eine schützende Wirkung haben, indem sie zum Beispiel dazu beitragen, dass der Körper schneller Antikörper gegen das neuartige Virus bildet“, erklärt Leif Erik Sander von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité, ebenfalls leitender Autor der Studie. „In diesem Fall würden kürzlich durchgemachte Coronavirus-Erkältungen die Symptome von COVID-19 vermutlich abschwächen. Es ist jedoch auch möglich, dass eine kreuzreaktive Immunität zu einer fehlgeleiteten Immunantwort führt – mit negativen Auswirkungen auf den Verlauf von COVID-19. Eine solche Situation kennen wir zum Beispiel beim Dengue-Virus.“

Charité-Corona-Cross-Studie gestartet

Um abschließend zu klären, ob in der Vergangenheit durchgestandene Coronavirus-Erkältungen nun tatsächlich vor einer späteren Infektion mit SARS-CoV-2 schützen – und so möglicherweise die unterschiedliche Ausprägung der Symptome erklären –, sind in die Zukunft gerichtete Studien nötig. Eine solche Studie – die Charité-Corona-Cross-Studie – ist jetzt unter Leitung der Charité in Kooperation mit der Technischen Universität Berlin und dem MPIMG gestartet. Gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geht sie der Frage nach, wie der Verlauf einer COVID-19-Erkrankung durch kreuzreaktive T-Helferzellen verändert wird.

„Coronaviren verursachen in Deutschland bis zu 30 Prozent der saisonalen Erkältungen“, sagt Andreas Thiel, Charité-Wissenschaftler am Si-M (Der Simulierte Mensch), einem gemeinsamen Forschungsraum der Charité und der Technischen Universität Berlin, und am BIH Center for Regenerative Therapies (BCRT). Er ist der dritte leitende Autor der jetzt erschienenen Nature-Publikation und Koordinator der Charité-Corona-Cross-Studie. „Man schätzt, dass sich ein Erwachsener im Schnitt alle zwei bis drei Jahre mit einem der vier heimischen Coronaviren ansteckt“, erklärt Thiel. „Wenn wir annehmen, dass diese Erkältungsviren tatsächlich eine gewisse Immunität gegenüber SARS-CoV-2 verleihen können, müssten ja Menschen, die in der Vergangenheit häufig solche Infekte durchgemacht haben und bei denen wir kreuzreaktive T-Helferzellen nachweisen können, besser als andere geschützt sein. Auf diese Personengruppen werden wir in der Charité-Corona-Cross-Studie deshalb besonderes Augenmerk legen.“ Parallel wird das Forschungsteam außerdem COVID-19-Risikogruppen über die nächsten Monate begleiten. Schlussendlich soll die Studie helfen, den Verlauf von COVID-19 in Zukunft sowohl vor als auch nach erfolgter SARS-CoV-2-Infektion besser vorherzusagen. „Das ist sowohl für den Alltag vieler Menschen als auch die Behandlung von Patientinnen und Patienten höchst relevant“, betont Thiel.

Geplant ist, Beschäftigte von Kindergärten und Kinderarztpraxen sowie Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen bis ins nächste Jahr hinein umfassend immunologisch zu untersuchen. Neben einem PCR-Test auf SARS-CoV-2 soll ihr Blut unter anderem auf Antikörper gegen das Virus und die Reaktivität der T-Zellen getestet werden. Kommt es dann bei einigen der Untersuchten zu einer SARS-CoV-2-Infektion, kann die Forschungsgruppe den Verlauf der Erkrankung mit den immunologischen Parametern in Beziehung setzen.

Zusätzlich plant das Forschungsteam, das Blut von mindestens 1.000 COVID-19-Genesenen auf verschiedene immunologische Faktoren hin zu untersuchen und diese mit den Symptomen in Zusammenhang zu setzen, die die Menschen erlebt haben. So sollen weitere mögliche Parameter aufgedeckt werden, die die Schwere des COVID-19-Verlaufs beeinflussen. Dafür suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktuell Menschen, die nachweislich an COVID-19 erkrankt und wieder genesen sind. Auch Personen, die in den letzten Jahren nachweislich mit einem Erkältungs-Coronavirus wie 229E, OC43, NL63 oder HKU1 infiziert waren, werden gebeten, sich zu melden. Interessierte können die Studienärzte montags bis freitags zwischen 10 und 17 Uhr unter 030/314 279 12 oder studie@si-m.org erreichen.

Allgemeines zur Immunantwort

Das Immunsystem bekämpft Erreger zum einen mithilfe von spezifischen Antikörpern und zum anderen durch die Aktivierung spezifischer Immunzellen, darunter T-Zellen. Man spricht von der humoralen und der zellulären Immunantwort. Beide Arme des Immunsystems tragen zur Ausbildung einer Immunität gegen einen spezifischen Erreger bei. Inwiefern und zu welchem Anteil die humorale und die zelluläre Immunantwort zu einer Immunität gegen SARS-CoV-2 beiträgt, ist Gegenstand aktueller Forschung.

T-Helferzellen

T-Helferzellen sind für die Steuerung und Koordinierung der Immunantwort verantwortlich. Dringt ein Erreger in den Körper ein, nehmen sogenannte Fresszellen ihn auf und präsentieren Bruchstücke davon („Antigene“) auf ihrer Oberfläche. T-Helferzellen kontrollieren diese Bruchstücke; verfügen sie über einen mehr oder weniger passenden Rezeptor für diese Erregerfragmente, werden sie aktiviert. Aktivierte T-Helferzellen sorgen dann dafür, dass andere Immunzellen den Erreger direkt bekämpfen und passgenaue Antikörper bilden. Bei den meisten Immunantworten entstehen dann auch sogenannte T-Helfer-Gedächtniszellen, die über viele Jahre im Körper überleben können und verantwortlich für eine schnellere und effizientere Immunantwort im Falle eines erneuten Kontakts mit dem gleichen Erreger sind.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht